Blick aus dem Küchenfenster

 

Alte Dörfer haben alte Bäume. Alte Bäume sind Landmarken für Auge und Seele. So gesehen habe ich es gut getroffen. Aus dem Wohnzimmerfenster fällt der Blick auf unsere Linde. Unter ihrer ausladenden Krone treffen sich auch heute noch kleine und große Menschengruppen und feiern alles von der Geburtstagsparty bis zur Hochzeit. Vor dem Schlafzimmerfenster grüßt eine prachtvolle Birke. Hinten raus ragen uns die Zweige eines Walnussbaumes im besten Alter fast ins Zimmer. Und vor dem kleinen Küchenfenster reckt sich in einiger Entfernung eine Eiche, die schon deutlich mehr als ein Jahrhundert gesehen haben muss.

Die ersten drei Bäume sind der Obhut unseres Vermieters anvertraut. Ich denke mal, auf sein Verantwortungsbewusstsein und seine Liebe zur Schöpfung ist Verlass. Auch wenn die Pflege älterer Bäume ihren Preis hat. Die Eiche steht auf Grund und Boden eines vielleicht 200 Meter entfernten Nachbarn. Der darf, was auch unser Vermieter dürfte: die Kettensäge ansetzen und den Baum fällen. Denn unsere Gemeinde gehört zu den verschlafenen in Deutschland, die auch heute noch keine Baumschutzsatzung haben. Das Interesse der Gemeinschaft an wertvollen Bäume endet also an den privaten Grundstücksgrenzen.

Und wie das Leben so spielt, kann der private Baumbesitzer wirklich in Versuchung geraten. Nehmen wir nur diese Eiche. Unseren Bauern war noch bis ins 20. Jahrhundert hinein eine reiche Eichelernte hoch willkommen. In dieser Gegend waren sie zwar Ackerbauern und nicht Viehzüchter. Aber gerade deshalb waren ertragreiche Eichen direkt beim Haus eine gute Hilfe bei der Mast von ein, zwei Schweinen für die Hausschlachtung. Aber die Zeiten haben sich gründlich geändert. Entlang unserer Dorfstraße mit ihrem Kopfsteinpflaster findet sich kein einziger Vollerwerbsbauer mehr. Die jungen Leute müssen ihr Glück woanders suchen. Und die Eltern werden alt. Nicht jede Bäuerin kann noch mit Ende Siebzig mal so eben erst die Eicheln und dann auch noch das Laub einer stattlichen Eiche auf die Seite schaffen.

Also schwirrt jetzt das Gerücht, unsere Nachbarn wollten den Baum fällen, als Notbehelf. Sie dürfen das – wie überall in Deutschland, wo Bürger nicht durch eine Baumschutzsatzung daran gehindert werden. Was tun? Den Nachbarn vielleicht eine ehrenamtliche Baumpflege-Patenschaft zur Laub- und Eichel-Entsorgung anbieten? Aber welcher selbstbewusste Landmann kann das mit seinem Stolz vereinbaren? Oder die Medien zu Hilfe rufen? Kommen würden die vermutlich. Aber Mitbürgern, die keinen öffentlichen Streit gewöhnt sind, solche Schwierigkeiten bereiten? Tut man das? Oder abwarten, ob die Eiche wirklich fällt, und dann in der Kommunalpolitik Alarm schlagen?
Wenn sie fällt, reißt das nicht nur eine schmerzende Lücke in meinen Rundum-Blick auf kraftvolle Bäume. Jede Biologin kann uns erklären, was für eine arten- und individuenreiche Lebensgemeinschaft mit der Vernichtung einer einzigen erwachsenen Eiche heimatlos wird. Es ist wie mit der Erde als Ganzer: zerstöre ich den Lebensraum, dann bringe ich all die mit um, die ohne ihn nicht weiter leben können.
Der Baum des Lebens und sein Bruder, der Baum der Erkenntnis, sind die ersten biblischen Zeichen, die uns unsere Geborgenheit in der Schöpfung und unsere Verantwortung für sie ans Herz legen. Für mich ein Grund mehr, täglich einmal aus dem Küchenfenster zu blicken.

(Harald Rohr – Januar 2012)