Wendehals – Wohnung verzweifelt gesucht

Wenn man bei uns im Dorf vom Wendehals spricht, gilt es, Missverständnisse zu vermeiden. Ich rede nicht von den Landsleuten, die nach 1989 in der damaligen DDR allzu eilfertig der Staatspartei den Rücken zukehrten, nachdem sie ihr zuvor über Jahrzehnte treu zu Diensten waren. Ich meine den so selten gewordenen drosselgroßen Vogel, jynx torquilla, aus der Großfamilie der Spechte. Letztes Jahr noch wurde er hier in der Feldflur von einem Jäger gesehen und gehört. Auf diesen Zeugen ist Verlass. Heute, im späten Schneewinter 2013, macht es keinen Sinn, nach ihm Ausschau zu halten. Der Wendehals ist ein Zugvogel. Den Winter verbringt er südlich der Sahara. Dann kann man sich sogar am Kongo-Strom nach ihm auf die Suche machen.

Aber nach Ostern, dann wird es kritisch. Dann erwarten wir unseren Wendehals nach Zugvogel-Flugplan zurück. Ihm steht so ungefähr die böseste Überraschung bevor, die für seinesgleichen denkbar ist: Die Reihe alter Apfelbäume, die den Mittelpunkt seines Lebensraumes gebildet haben, ist ratz-fatz abgehackt worden. In einem dieser Bäume hat Ehepaar Wendehals seine Bruthöhle besessen. Der Zusammenhang ist zwingend: wo der Wendehals fliegt, muss alter Obstbaumbestand in der Nähe sein. Denn ohne natürliche Baumhöhlen geht es nicht. Der Wendehals ist zwar ein Specht; aber einer ohne Meisterbrief im Zimmermannshandwerk. Er kann sich selbst keine Höhle zimmern wie die anderen Spechte. Er ist auf natürlich entstandene Höhlen angewiesen. Und einfach auf irgend ein anderes Nestmodell aus der großen Vogelwelt umsteigen? Auf eine solche Idee können nur ahnungslose Menschen kommen, aber kein Vogel, der seiner genetischen Dienst­anweisung folgen muss.

Naturschatz und Alarmzeichen in einem: der Wendehals gilt in Deutschland als Botschafter der Streuobstwiesen. Jeder Zuzug in ein unter Schutz stehendes Kulturlandschafts-Biotop wird in der Regionalpresse gefeiert. Mehr Naturschutz als für den Wendehals geben unsere Gesetze gar nicht her. Sein Wegbleiben gilt umgekehrt als unwiderlegbarer Indikator für die weitere Verödung der Landschaft.

In dieses sensible Szenario sind hinter unserem Dorf unvermittelt die Kettensägen hereingebrochen. Den Konflikt vor Ort: „Wer hat was mit wessen Erlaubnis oder auch nach eigenem Gutdünken und in eigener Ahnungslosigkeit veranlasst und ausgeführt?“ werden wir noch auszutragen haben: BürgerInnen, Kommune, Behörden, womöglich persönlich Verantwortliche.

Acht alte Apfelbäume in der Feldflur sind 2013 ein kostbares öffentliches Gut, das höchstens in einem transparenten und wirklich gesetzeskonformen Verfahren angetastet werden darf – zumal die Baumsenioren keinen Zweibeiner in Gefahr gebracht haben. Solche unersetzlichen Güter dem Gutdünken einzelner Bediensteter auszuliefern, das darf keine Dorfgemeinschaft hierzulande hinnehmen. Aber wie gesagt, was wir vor Ort austragen müssen, gehört nicht hierher.

Hier ist als Erstes zu protokollieren: selbst wenn aus dem Katzenjammer über den fahrlässigen Baumfrevel der Wille zur Wiedergutmachung erwachsen sollte, die Wendehälse werden für die Brutsaison 2013, nein für ihre und vieler ihrer Nachkommen Lebensspanne umziehen müssen. Denn es dauert mindesten ein volles Menschenleben, bis Bäume alt und stark genug sind, natürliche Höhlen zu bilden, in denen sich Vogelfamilien niederlassen können. In unserer Zuckerrüben- und Maissteppe sind die Chancen auf eine unbesetzte Wendehalswohnung aber nahe Null. Die Natur­schutzverbände werden eine weitere Vogelart im Umland von Magdeburg auf die Vermisstenliste setze. In den Kriegen der Menschen untereinander haben sich die meisten vermisst Gemeldeten später als umgekommen herausgestellt. Der Vergleich hinkt gar nicht so sehr, wenn ich an unseren Krieg gegen die Natur denke.

Auch wenn es länger dauert, als ich noch zu den Dorfbewohnern zählen werde: selbstverständlich müssen biologisch wertvolle Hochstamm-Obstbäume als Ersatzpflanzungen in unsere Feldflur zurückkehren. Niemand kann sagen, welche Mitgeschöpfe durch sie und in ihnen eine Lebens­grundlage finden werden. Und wir selbst, die wir eines schlechten Tages nur noch die Baumstümpfe vorgefunden haben? Eine Portion übler Nachrede als Nörgler und Querulanten müssen wir schon riskieren. Aber ein Dorf ohne Vogelstimmen ist schlimmer!

Harald Rohr, März 2013